Die fünfziger und sechsziger Jahre.

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9 Jahre 7 Monate her - 9 Jahre 7 Monate her #1 von Bernd Offizier
Bernd Offizier antwortete auf Die fünfziger und sechsziger Jahre.
Lieber Dieter,
vielen Dank für Deinen interessanten Artikel, bestimmt werden hierüber auch die Leser an ihre Jugendzeit erinnert.

Aus Deinem Artikel kann man entnehmen, dass in Liblar, auf der Straße und auch bei Dir zu Hause nur Dialekt gesprochen wurde.

Neben den Dialekten pflegst Du dazu noch das für viele unbekannte “Straßenabitur”.

Ja, wir sind „zweisprachig“ aufgewachsen. Als heutiger Sprachwissenschaftler hattest Du damit schon einen passenden Einstieg.

Herzlichen Dank für die Pflege unserer Freundschaft,
Bernd Offizier
Letzte Änderung: 9 Jahre 7 Monate her von Bernd Offizier.

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9 Jahre 7 Monate her #2 von Dr. Dieter Esser
Die fünfziger und sechsziger Jahre. wurde erstellt von Dr. Dieter Esser
- von Dr. Dieter Esser -


Die fünfziger und sechsziger Jahre.

Der Weg war nicht weit. Aus dem Haus, ein wenig nach rechts, dann die Donatusstraße hinab. Leichter Regen. Hinter der evangelischen Kirche. Das erste Haus. Das war der einzige Kindergarten.
Tante Ursula – so nannten alle die Frau Pape – wartete schon auf uns, jeden einzelnen empfing sie lächelnd. Sie nahm mir die kleine Umhängetasche ab. Aus irgendeinem Grund trugen wir sie immer vorn vor dem Bauch statt seitlich. Dann ging es hinein in die Gruppe.

Tante Ursulas Kindergarten war ein Ort der Freude. Kein Druck lastete auf uns. Wer schon etwas lesen konnte, der las. Niemand hatte es uns beigebracht. Wer gegen Bälle treten wollte, trat gegen Bälle. Niemand wäre in diesem Sommer 1956 auf die Idee gekommen, uns unsere Kindheit zu nehmen und schon bei Tante Ursula auf das Gymnasium vorbereiten zu wollen.

Der Kindergarten war evangelisch. Und wir Katholiken waren in der Überzahl. Die rheinisch-katholischen Eltern Oberliblars schickten uns Kinder ohne Ausnahme zu Tante Ursula. Ökumene war noch kein bekanntes Wort und doch wurde sie hier praktiziert. Und gelebt. Keinem von uns Vier-, Fünf- oder Sechsjährigen wurde irgendetwas aufgezwungen.

Wie meine Mutter mir später erzählte, gab es die „Stille Stunde“, in der von Jesus erzählt wurde, aber nicht etwa vom katholischen oder evangelischen Jesus, sondern von Jesus. Von der Flucht nach Ägypten, von der Kreuzspinne, die den Eingang zur Höhle, in der sich die Heilige Familie versteckte, durch ihr Netz sicherte und deshalb das Kreuz auf dem Rücken trägt. Und vom heiligen Christophorus, dem Riesen, der den kleinen Jesus auf den Schultern durch einen Fluss trug und an der Last fast zerbrach.

Wer hätte auch verstanden, wenn es um die Fragen der heiligen Kommunion oder des Abendmahls gegangen wäre, um substantia oder non-substantia.

Unvergessen sind die kleinen Wanderungen über die Felder zum kleinen Wäldchen, dem „Tännehimmelchen“. Immer zwei und zwei, so hieß es, zwei und zwei, Händchen haltend. Und Tante Ursula zeigte uns Blumen und Kräuter, benannte sie, und Käfer, benannte sie, und sie lehrte uns, auch das Kleine zu achten. „Stellt euch vor, Ihr wärt ein kleiner Käfer und da kommt so ein Riesenfuß auf euch zu.“

Nicht ohne Stolz, so erzählte mir Mutter, habe sie meine ersten schauspielerischen Versuche gesehen. Ich war der Jäger mit dem Schießgewehr, der irgendwie Rotkäppchen – war es Christa? - und irgendeine Großmutter rettete. Märchen. Wir kannten sie alle. Sie wurden vorgelesen – von Tante Ursula – und keiner sprach ein Wort. Ob es damals auch schon ADHS-Jungen und Phosphatis gegeben hat, die mehr Aufmerksamkeit brauchten als andere? Oder konnten sie sich beim Fußball austoben oder auf der Straße?

Austoben. Natürlich waren die Unterschiede da. „Und lehret die Mädchen und wehret den Knaben..“ heißt es schon in Schillers Glocke. Man musste uns Jungen wohl irgendwie zügeln aber dabei Jungen sein lassen.

Und die langen Sommer. Auf der Straße wurde Federball gespielt.

Ich erinnere mich, dass die Straße uns Kindern gehörte. Autos? Ja, einer der Metzger hatte einen Opel, die Wäscherei einen Ford. Wir gaben respektvoll die Straße frei, unterbrachen unser Spiel, wenn eines dieser Autos vorbei fuhr. Ob sie eine Hupe hatten, weiß ich nicht. Jedenfalls wäre niemand auf die Idee gekommen zu hupen, damit wir schneller die Straße räumten.
Pro Stunde ein Auto. Maximal. Die Lastwagen mit den Briketts der beiden Kohlegruben und Brikettfabriken Grube Liblar und Grube Donatus nahmen ja einen anderen Weg, die Bahnhofstraße hinunter oder den Schlunkweg. Nur einer fuhr unbeirrt durch unsere Straße und durch alle anderen Straßen des Dorfs: Schmitze Matthes mit seinem Pferdefuhrwerk, der die Privathaushalte mit Kohle belieferte.

Die Gruben schlugen den Takt in unserer Idylle. Die Werkssirenen heulten nach einem festen Plan, ich glaube morgens um sechs Uhr, mittags um zwei und abends um zehn. Dies gehörte zu unseren akustischen Reizen wie die Kirchenglocken von St. Barbara und den etwas feineren und selteneren der evangelischen Friedenskirche. Wäsche wurde nur im Keller aufgehängt, konnte nur in geschlossenen Räumen aufgehängt werden, weil der Kohlenstaub aus den Kaminen der Gruben es nicht zuließ, sie draußen aufzuhängen.

Die Gruben gaben Hunderten von Menschen Arbeit und Brot. Hier arbeiteten Menschen, die Panizzolo oder Canicelli hießen oder Nowak und Jastriemski. Die Familien waren schon Anfang des Jahrhunderts in unsere Gegend gekommen, Schlesier und kohleerfahrene Arbeiter aus anderen Teilen der Welt. Die Gruben bedeuteten aber auch Arbeit für die einheimische Bevölkerung. Allein in unserer Straße, die zwischen Bahnhofstraße und Schlunkweg verlief, gab es zwei Metzgereien, zwei Bäckereien, zwei Friseure, eine Wäscherei, einen Textilladen, eine Kneipe.

Der Bahnhof Liblar war Dreh- und Angelpunkt. Gleise verliefen in alle Richtungen. Die Hauptstrecke verlief zwischen Köln und Trier. Nur wenige Meter entfernt fuhr das Horremer Bähnchen über Köttingen, Kierdorf bis nach Horrem. Und noch ein Stück weiter begann die EKB, die Euskirchener Kreisbahn, die Güter und Menschen über Blessem, mitten durch Lechenich hindurch bis nach Mülheim-Wichterich transportierte.


Und dann die Winter. Mit Schnee und Eis. Die Bergstraße war unser Rodelparadies. Schon an der Kirche nahmen wir Anlauf, warfen uns auf die Schlitten, während die Vorsichtigeren es vorzogen, sitzend zu rodeln. Allerdings mündete die Bergstraße in den Schlunkweg und gerade wenn man herrlich Fahrt aufgenommen hatte, hätte man abbremsen müssen, wenn eines der wenigen Fahrzeuge auf dem Schlunkweg vorbei kamen. Aber da unten standen Erwachsene, selbst ernannte Rodelpolizisten, unter ihnen „der alte Schwingeler“, der wahrscheinlich damals keine vierzig war, und regelten den Verkehr. Aber zu unseren Gunsten. Wenn kein Auto kam, standen sie seitlich auf dem Schlunkweg. Für uns ein sicheres, verlässliches Zeichen durchbrausen zu können. Andernfalls winkten sie schon von Weitem und bedeuteten uns abzubremsen.

An diesem Spiel war das ganze Dorf beteiligt. Erwachsene kamen hinzu, um zu „klaafe“, was soviel heißt wie sich zu unterhalten. Andere rodelten mit, verliehen dem Rodeln im wahrsten Sinne des Wortes mehr Gewicht und beschleunigten so unsere Abfahrten.

Die Donatusstraße war zwar nicht so steil wie die Bergstraße, dafür aber länger. Vielleicht wollten die Anwohner dieser um 1900 gebauten Straße, die sehr an die von D.H. Lawrence geschilderten Bergarbeiterdörfer erinnerte, nicht zurückstehen. Jedenfalls schütteten sie Wasser auf den harten Schnee. Der Frost machte die Donatusstraße zu einer breiten, langen Rodelbahn, die ebenfalls in den Schlunkweg mündete, wo ebenfalls Erwachsene standen und uns vor Autos warnten.

Über die Hierarchie der Straßen machten wir uns als Kinder keine Gedanken. Dass die freistehenden Häuser der Bahnhofstraße oder die Doppelhäuser des Schlunkwegs im Gegensatz zu den gelbbraunen Arbeiterhäusern der Donatusstraße irgendeine Bedeutung in Bezug auf den sozialen Status ihrer Bewohner hatten, wussten wir Kinder noch nicht. Im Übrigen wäre es uns auch völlig gleichgültig gewesen.

Und dann kam der Sommer. Schwimmen brachten uns die Väter bei. Sie fuhren auf aufgepumpten Gummireifen mit uns ein Stück auf den Zweisee, der eigentlich Zwillingssee heißt, hinaus, schubsten uns behutsam ins Wasser und ließen uns das tun, was ihre Väter vermutlich schon mit ihnen gemacht hatten: Sie ließen uns ohne Hilfe versuchen, den Gummireifen zu erreichen. Unter didaktischen Gesichtspunkten war das eine zweifelhafte Art des Schwimmenlernens, aber sie muss wohl in unseren Breiten erfolgreich gewesen sein.

Ich erinnere mich an über mir zusammenschlagende Fluten, schloss vorsichtshalber unter Wasser den Mund, starrte nach oben auf die grünliche Färbung des Wassers und sah wie in einer verschwommenen Filmsequenz, wie zwei Meter weiter oben mein Vater auf meine Rückkehr wartete. Prustend und Zweiseewasser spuckend griff ich nach dem Reifen, den mein Vater aber immer wieder ein Stück weiter bewegte, sodass ich ihn nur „schwimmend“ erreichen konnte. Stolz wurde von mir erwartet, Stolz, den Reifen endlich erreicht zu haben. Stattdessen ein Gemisch aus Survival – Feeling und Hass gegen den doch sonst so vorbildlichen, liebevollen Vater.
Zur Belohnung gab es die mitgebrachte Limonade, ein in der Sonne warm gewordenes Zuckerwasser. Ich wollte seit diesem Nachmittag nie wieder in irgendeinen See. Und wirklich schwimmen lernten wir später.

Das verdanken wir dem „Lido“, wie wir den Liblarer See kosmopolitisch nannten. Noch vor Kurzem ein schwarzes, leeres Baggerloch, war der Lido unser Revier. Gab es einen Nachmittag, an dem wir uns im Sommer nicht dort trafen? Butterbrote sättigten unseren Hunger, die man in späteren Jahren aus hygienischen Gründen keinem Kind mehr angeboten hätte. Die „gute Butter“ war nur noch eine hellgelbe Schmiere, die Sonne hatte aus den Broten Toastbrot gemacht. Wir haben es überlebt. Der Sommer dauerte in der Wahrnehmung von uns Kindern etwa sechs Monate, der Rest war Winter.


Die Volksschule in der Heidebroichstraße lehrte uns, was es heißt, katholisch oder evangelisch zu sein. Aus und vorbei waren die ökumenisch-entspannten Jahre im evangelischen Kindergarten. Es gab jetzt den katholischen Schulhof, auf dem nur katholische Lehrer Aufsicht führten und den evangelischen. Was wollte an uns eigentlich damit klarmachen? Sollten wir, die katholische Mehrheit, dafür sensibel gemacht werden, dass „die da“ so ganz anders waren als wir? Was hat man da in unsere Kinderköpfe pflanzen wollen?

Der Reiner, der nachmittags bei uns im Tor stand, war evangelisch. Das wussten wir, weil er morgens in der Schule „drüben“ spielen und sein Pausenbrot essen musste. Wir mochten Reiner, nicht nur weil er uns das Tor meist sauber hielt, sondern weil er ein guter Typ war. Zu theologischen Fragestellungen kam es eigentlich nie bei unseren Fußballspielen und unseren ausgedehnten Walderoberungen.

Und dann die Lehrer. Manche, so hieß es später, hatten nur eine pädagogische „Grundausbildung“ hinter sich gebracht und durften unterrichten. Alles. Rechnen, Schreiben, Naturkunde. Heute kann sich kein Kind mehr vorstellen, was es bedeutet, auf einer Schiefertafel zu schreiben, die der Lehrer ständig kontrollierte. Bei Missfallen musste man alles auswischen und neu schreiben. Da kommt schon eine gewisse Vorsicht auf. Ich behaupte, viele von uns schrieben recht sauber, weil sie keine Lust hatten, alles mehrmals zu schreiben.

Was waren das übrigens für Lehrer, die mit dem Lineal auf unsere Hände einschlugen, wenn wir „unartig“ waren? Warum durfte Lehrer W. Mit dem Schlüsselbund nach uns werfen, wenn wir zu laut waren? Disziplin wurde großgeschrieben. Keiner wäre auf die Idee gekommen, sich zu Hause über die Strenge der Lehrer zu beschweren. Die Antwort der meisten Eltern hätte gelautet: „Dann hatt'st du dat och verdeent!“ Unsere Klassenlehrerin im ersten Schuljahr war Fräulein Hörter. Sie hatte bereits meine Mutter in der gleichen Schule unterrichtet. Es folgte Fräulein Schneider. Warum die wenigen Lehrerinnen alle Fräulein hießen blieb uns verborgen.

Und Nikolaus Becker, der Junglehrer, übernahm uns im vierten Schuljahr. Eines Tages, Anfang der sechziger Jahre, hatte er meine Mutter zu sich rufen lassen. Nicht, weil ich „unartig“ gewesen war, sondern um ihr zu eröffnen, dass er zwei Jungen aus seiner Klasse für geeignet hielt, ein Gymnasium zu besuchen, Martin und mich. Der Großvater und der Vater waren nicht begeistert. Sie waren Eisenbahner und für „dä Jong“ - so meine amtliche Bezeichnung – wäre das doch eine klare, sichere Option. Meine Mutter setzte sich durch.

Gymnasium – das bedeutete in jener Zeit entweder am Bahnhof Liblar nach rechts, Richtung Euskirchen zu fahren, über Weilerswist, Derkum, Großbüllesheim, fernab der Heimat, oder nach links, Richtung Köln, dann aber nur eine Station, bis Kierberg. Martins Eltern entschieden sich für links und überzeugten meine Eltern, ihnen zu folgen. Das bedeutete 6.30 Uhr aufstehen, 7.13 Uhr mit der Dampflok nach Kierberg, dann einen 35-minütigen Fußweg bis nach Brühl. Bei jedem Wetter. In unserer Gegend gab es nun mal kein Gymnasium. Lechenich hatte ein Pro-Gymnasium, Liblar hatte nichts.

Es gab die Aufnahmeprüfung. Rechnen, Diktat, Aufsatz. Zehnjährige aus dem Umland versuchten sich an den nicht gerade einfachen Aufgaben. Martin und ich kamen durch und saßen bald zusammen mit Jürgen aus Bliesheim, Theo und Hermann aus Kierdorf und Winfried aus Köttingen neben all den Arzt- und Rechtsanwaltskindern in der Lateinklasse des Städtischen Gymnasiums Brühl. Ich sage nicht ohne Stolz, dass wir „einfachen Kinder“ aus der Provinz das Abitur ohne Sitzenbleiben geschafft haben, während die Rechtsanwaltskinder auf Internate mussten, um sich dort auf ihre spätere Rechtsanwaltskarriere vorzubereiten.

Damals hörte ich zum ersten Mal von der Insel Spiekeroog. Ich wusste nicht, dass es sich dabei nicht um eine Gefangeneninsel, sondern um eine Internatsinsel für Besserverdienende handelt. Ich glaube, wir Landkinder waren einfach fleißiger, weil unsere Väter sich Spiekeroog nicht hätten leisten können.

Immerhin war unser Gymnasialweg der Anfang einer breit angelegten Kampagne, um auch nicht wohlhabenden Kindern den Besuch einer höheren Schule zu ermöglichen. Es kommt eine gewisse Dankbarkeit bei mir auf, auch wenn ich der Meinung bin, andere Jungen und Mädchen des vierten Schuljahrs von Junglehrer Becker hätten auch eine Chance verdient gehabt.


Doch nicht so schnell! Vor dem großen Sprung auf die weiterführenden Schulen gab es einen biographischen Meilenstein für etwa Achtjährige, dem man sich nicht entziehen konnte: der Kommunionunterricht.
Dieser Unterricht – der Rheinländer benutzt außer der Substantivverkürzung auch gern das verbindende „s“: Kommjonsunterricht – lief so ab, dass wir ein vom Erzbischof persönlich autorisiertes kleines Heftchen bekamen, das neben Texten und vollständigen Bildern sogar Bildflächen zum Ausmalen vorsah. Uns interessierte besonders, was sich wohl hinter den grünen Blättern befinden mochte, die ausgerechnet Adams und Evas Mitte und bei Eva noch einen Teil unter dem Hals verbargen. So etwas setzt Fantasie frei.

Jedenfalls gelang es Pfarrer Hockelmann, uns auf den großen Tag vorzubereiten. Dazu gehörte natürlich auch die Beichte. Aufregend, aufregend. Schon die Fragen waren sehr irritierend: „Warst du unkeusch, in Gedanken, Worten und Werken?“- „Allein oder mit anderen?“ Oje, was musste sich der arme Pastor da wohl alles anhören. Der arme Pastor.

„Dies ist der schönste Tag in meinem Leben“ hieß es auf den Schildern, die am Hauseingang eines jeden Kommjonkinds hingen. Mittig, oben, von grünen Kränzen und weißen Papierröschen umgeben, die sagen sollten: Hier wohnt einer, der gerade den schönsten Tag seines Lebens begeht. Der Erzbischof mag mir verzeihen, wenn ich hier erkläre, dass es noch andere schöne Tage in meinem Leben gab: bestandene Examina, Hochzeit, die Geburt meiner Kinder; ja auch mein erstes Rolling-Stones- Konzert in Köln...

Der „schönste Tag in meinem Leben“ begann damit, dass wir uns in Zweierreihen, natürlich nach Geschlechtern getrennt, eine halbe Stunde vor Messbeginn vor der Kirche aufzustellen hatten, den „Einzug“ dreimal üben mussten, damit nur ja keiner aus der Reihe tanzt. Noch heute hört man von älteren Menschen den Satz: „Das war mein Kommjionspaar!“. Logisch ist das nicht nachzuvollziehen, weil doch nur gemeint war, dass dieser oder jener neben mir gegangen ist. Mein „Kommjonspaar“ war Heinz, der es später zum Staatsanwalt gebracht hat.

Nervös und – wie man heute sagen würde - „fokussiert“ achteten wir mehr auf unsere Schrittfolge und das Flackern der Kommjonskerze als auf das Geheimnis des Glaubens, das uns wenig später in die Gemeinschaft der einen, heiligen, katholischen Kirche aufnehmen würde. Wenn die Evangelischen wüssten, was ihnen da entgeht! (Ich war ein wenig enttäuscht, als ich erfuhr, dass die Evangelischen ihr Fahrrad nur ein paar Jahre später bekamen, bei ihrer Konfirmation. Und die mussten nicht beichten, obwohl man mit vierzehn ja wohl eher Grund hätte, der Frage nach dem „Allein oder mit anderen“ intensiver nachzugehen.)

Dann wurden wir Messdiener, die meisten von uns. Wir stritten uns darum, morgens um 6.40 Uhr fröstelnd vor der Sakristei warten zu dürfen, bis Hubert Alef, der Küster und Organist, uns einließ. Ja, das gab's wirklich: die Frühmesse, täglich, 7 Uhr. Er hatte bereits die Kutten zurecht gelegt. Meistens rot – für normale Tage des Jahres -, gelegentlich violett – Fastenzeit -, manchmal schwarz, bei Beerdigungen.

Es klingt makaber, aber Beerdigungen waren das Größte. Da sie meist am Vormittag stattfanden, bekammen wir schulfrei, durften Bus fahren, denn der Friedhof lag in Unterliblar. Von Oberliblar fuhr also alles, was vorher in der Kirche saß, mit dem Bus in die Köttingerstraße. Erst viel später begriff ich, was meine Mutter meinte, wenn sie sich über uns Kinder ärgerte und sagte: „Du brengs mich noch en de Köttinge Jass!“

Bei diesen Gelegenheiten lernte ich viel über das Verhältnis der Menschen zum Tod. Kaum war die ergreifende, schmerzhafte Beerdigung vorüber, setzten sich all die, die nicht zum Leichenschmaus im Schwan eingeladen waren, wieder in den Bus. Dort hörte ich Sätze wie „Dat wor ävve en schön Beerdijung!“ oder „Häste dä Paul jesenn? Dä hätt noch net ens en schwatze Botz ahn gehatt!“, aber auch lebensbejahende Äußerungen wie: „So, ich moss jetz noch op de Kass un donoh enkoofe.“ Life must go on. Das prägt.

Einer der Höhepunkte im Kirchenjahr war Fronleichnam. Unvergessen sind schon die Vorbereitungen. Es begann damit, dass wir Kinder am Vortag mit Großeltern und Eltern mit Handkarren in den Wald zogen. Es dauerte oft Stunden, bis die Wagen mit Lupinen und anderen Blumen gefüllt waren. Das Lupinenabstreifen („Lupineströöfe“) war ökologisch sicher bedenklich. Denn man streifte die meist violetten Lupinenblätter ab, warf sie in den Handkarren und ließ ein verödetes Gebilde von Halm zurück. Aber katholische Prozessionen verlangen nun mal Opfer.

Und wozu das Ganze? In den frühen Morgenstunden, und ich spreche von fünf Uhr morgens, herrschte eine Betriebsamkeit, die einmalig im Jahr war. Die Fronleichnamsprozession ging gegen 10 Uhr nach einem festgelegten Muster zu vier bis fünf Zwischenstopps. Dort standen die in den Nachtstunden aufgebauten hölzernen Altäre, an denen der Segen erteilt wurde. Erstaunlich war es für uns Kinder, dass Leute, die der Kirche eher fern standen, sich ebenso mit aller Kraft an dem Bau der Holzaltäre beteiligten.

Diese Stationen waren das Highlight der Fronleichnamsprozession. Birken waren geschlagen und links und rechts der Altäre aufgereiht worden. Die Holzstufen waren mit Teppichen ausgelegt und der Weg zu den Stufen mit Blüten übersäht. Kunstvoll fand sich mitten in einem violetten Lupinenblütenteppich ein weißer Kelch aus Blüten, über dem – es war Ginster – eine gelbe Hostie schwebte, von der wieder weiße Strahlen ausgingen.

In mühevoller Arbeit waren alle Straßen und Hauseingänge mit religiösen Symbolen ausgestattet worden. Vor unserem Haus kamen die Blüten aus dem Handkarren zum Einsatz. Am oberen Ende der vier Eingangsstufen unseres Hauses hatte meine Großmutter ein Marienbild aufgestellt. Daneben eine Porzellanfigur der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute.

Und dann war es soweit. Schon von fern war der „Baldachin“ zu sehen, jenes goldgewebte Ungetüm von Stoffdach, das an vier Säulen von Schützen getragen wurde. Darunter schritt der Herr Pastor, die Monstranz fest von den Händen umschlossen. Davor und dahinter eine Menge von Messdienern, dahinter die aktuellen Kommunion(s)kinder. Und dahinter der Kirchenchor vor dem Rest der Gläubigen.

Ja, auch akustisch wurde einiges geboten. Das Ganze hatte eine eigentümliche Würde, wie ich es später nur noch in der Karwoche auf Sardinien oder Spanien erleben konnte. Ich frage mich manchmal, ob diese Zeit nicht glücklicher war. Traditionen wurden bewahrt. Allerdings stelle ich mir auch vor, wie unser Torwart Reiner und die anderen Evangelischen auf unsere bunten Umzüge reagiert haben mögen...
Und tags darauf wieder Routine.

Jakob Rothkamp, genanntMilch-Köbes, fuhr mit seinem Wagen durchs Dorf und verkaufte frische Milch, die er in unsere Milchkannen abfüllte, der Metzger trieb Schweine in sein Schlachthaus, die später als Würste in seinem Laden hingen, der Briefträger rief schon von weitem, dass Helma und Erich in Rimini sind und geschrieben haben, weil er natürlich vorher kontrollieren musste, was er da an die Leute verteilte, und wir Kinder? Wir gingen natürlich wieder zum Liblarer See, zu unserem Lido, schwimmen.

Vorher jedoch schickten wir Theo noch bei Zigarren Kanzler vorbei. Theo war schon dreizehn, hatte also keine Problem, für uns Zigaretten zu kaufen. Er war es übrigens auch, der uns aufklärte... Zur Tarnung kaufte er neben zwei Packungen Loyd (mit jeweils fünf Zigaretten pro Packung) noch drei Zigarren - „auch für de Opa“. So waren wir also ausgestattet mit allem Lebensnotwendigen: der gelben Limo, den sich nach und nach auflösenden Butterbroten und Loyd-Zigaretten.

Doch das Größte hatte Karl dabei: ein Kofferradio. In jenen Jahren gab es sicherlich mehrere Radiosender, aber bekannt war uns Kindern nur Radio Luxemburg. Am Lido breitete man sich aus, die Bäume hinter den großen Freiflächen hatten gerade mal Mannsgröße erreicht, da sie ja erst wenige Jahre vorher, nachdem man das Erdloch zu einem See hatte volllaufen lassen, gepflanzt worden waren. Wir positionierten unser Kofferradio so, dass die Mädchen auf den Nachbardecken es nicht nur hören, sondern auch sehen konnten und hofften auf bewundernde Blicke.
Nun war es so, dass man rund um den See gehen konnte, ohne auch nur eine Minute frei von Radio Luxemburg zu sein.

Ich vergesse nie, wie der Hit der Walker Brothers, „The Sun ain't gonna shine anymore“, aus Dutzenden Kofferradios, die meisten hellblau, einige knallrot, manchen pink, erscholl. In welche Richtung man auch ging, der Song war da, im Multistereo-Lido-Surround-System... Aufmerksam lauschten wir vor allem donnerstags, wenn Radio Luxemburgs Jörg mit „Hits aus aller Welt“ dran war. Und dabei rauchten wir eine Loyd.

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