Fehlurteile, die das Leben zerstören...

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12 Jahre 1 Monat her - 12 Jahre 1 Monat her #1 von Hannes Kühn
Fehlurteile, die das Leben zerstören... wurde erstellt von Hannes Kühn
Fehlurteile - Ein Artikel des EH-Magazins (2.2012)

Wie kommt man zu einem Urteil? Um es kurz zu erklären: Das Urteil ist eine der gerichtlichen Entscheidungen, die Rechtsfolgen aussprechen, Rechtsverhältnisse feststellen oder Anordnungen treffen, die für den Fortgang des Verfahrens von Bedeutung sind. Nach der Form der Entscheidung unterscheidet man dann Urteile, Beschlüsse und Verfügungen. Welche Form vorgeschrieben ist, ergibt sich aus den einzelnen Verfahrensordnungen.

Für wichtige Entscheidungen, vor allem solche, die ein gerichtliches Verfahren ganz oder teilweise abschließen, sieht das Gesetz meist die Form des Urteils vor, das in der Regel aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergeht.

Dieses Thema behandelt Urteile im juristischen Sinne. Wir wollen uns da mit einem besonderen Bereich beschäftigen, nämlich mit Fehlurteilen. Ein Wort, das die deutsche Justiz in ihrem Sprachgebrauch kennt, aber am liebsten nicht kennen würde. Trotzdem müssen jährlich 70.000 Hafttage entschädigt werden. Ist dies nicht schon ein Widerspruch? Allgemein gesprochen ist ein Urteil eine gerichtliche Entscheidung über einen bestimmten zur Entscheidung stehenden Sachverhalt. Wie schlecht manche Sachverhalte geprüft werden, zeigt der aktuelle Fall eines Fehlurteils des Darmstädter Landgerichts. Hier wurde ein Lehrer wegen (angeblicher) Vergewaltigung (unschuldig) zu fünf Jahren Haft verurteilt, die auch vollständig abgesessen hat.

„Die letzten zehn Jahre waren die Hölle“, fasste Horst A. in seinem Schlusswort die Ereignisse seit der Angeblich-Schen Tat im Jahr 2001 in einen Satz.

Wenig später dann für ihn die Erlösung:
„Den Angeklagten sehen wir nachweislich als unschuldig an“, erklärte Jürgen Dreyer, der Vorsitzende Richter am Kasseler Landgericht. Die Zuschauer im Gerichtssaal applaudierten.

Fünf Jahre hatte der mittlerweile 52-jährige Lehrer wegen Vergewaltigung im Gefängnis gesessen. Zu Unrecht befanden die Richter im neu aufgerollten Prozess und sprachen den Mann vom Vorwurf der Vergewaltigung an einer Ex-Kollegin frei. Das mutmaßliche Opfer habe gelogen.

Was war passiert? Das Landgericht Darmstadt verurteilte Horst A. - unbeliebt, weil Alkoholiker und aggressiv - 2002 zu fünf Jahren Haft, weil er seine damals 36 Jahre alte Kollegin in Reichelsheim (Südhessen) vergewaltigt habe.

Weil der Lehrer immer wieder seine Unschuld beteuerte, wurde er nicht vorzeitig aus der Haft entlassen. „Sie haben die ganze Härte des Strafvollzuges kennengelernt“, betonte Richter Dreyer.
Doch Verteidiger Hartmut Lierow gab auch nach der vollständig verbüßten Strafe nicht auf, suchte neue Beweise und fand sie: Fas vermeintliche Opfer habe gelogen - immer wieder. Das sah letztlich auch das Kasseler Landgericht so.
Die Frau habe ein „an sich kaum glaubhaftes Geschehen geschildert“, betonte Richter Dreyer. Es sei davon auszugehen, dass die Zeugin (= vermeintliches Tatopfer) „die Ge- schichte von vorn bis hinten erfunden hat.“ Sie sei in der Lage. Sie sei in der Lage gewesen, „die aberwitzigen Geschichten zu erfinden“. So habe die Frau nach der vermeintlichen Tat eine Tochter erfunden - oder behauptet, ihren angeblich im Koma liegenden Freund zu betreuen, um eine Versetzung zu erreichen. „Sie setzte Lügen gezielt ein, um berufliche Vorteile zu erzielen.“

Ein mögliches Motiv für den Vergewaltigungsvorwurf könnte gewesen sein, dass die Frau - auch Biologielehrerin - an die Stelle ihres Kollegen kommen wollte. Zudem gab es viele Ungereimtheiten in ihren Aussagen. Im neuen Prozess ver- weigerte sie die Aussage. Nicht gerade das Verhalten, das eine Frau an den Tag legen würde, deren Ehre und Würde durch eine schlimme Sexualstraftat verletzt wurde und die ihre Glaubwürdigkeit verteidigen wollte. Sie hatte wohl erkannt, dass es nun doch besser sei, den Mund zu halten, um das Schlimmste nicht noch schlimmer zu machen.
Ihre Anwältin, die gefordert hatte, das Darmstädter Urteil aufrechtzuerhalten, äußerte: „Das Urteil ist ein Schlag ins Gesicht jeder vergewaltigten Frau.“

Indes ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft gegen die Frau wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft.
Mittelbar bedeutet, dass die Tatvollendung der Freiheitsberaubung durch einen Richter (hier gleich Tatwerkzeug/Tatmittler) herbeigeführt wurde, der aufgrund falscher Tat-Sachen einen richterlich angeordneten Freiheitsentzug durch Urteil verhängte.

Die Frau missbrauchte also die Justiz für die Umsetzung ihres perfiden Plans - und ihre Rechnung ging zunächst auf. Zudem arbeitete das Gericht damals nicht gründlich nach den Regeln der juristischen Kunst. Die Kombination beider Faktoren ergab ein negatives Produkt für Horst A.

Der Kasseler Richter Dreyer machte deutlich, wie ein Gericht vorzugehen hat: „Die Aussage der Belastungszeugin gilt so lange als falsch, bis diese These nicht mehr zu halten ist.“ (= Unschuldsvermutung, elementares Prinzip der Strafrechtslehre).
Im Fall von Horst A. habe das Landgericht Darmstadt 2002
grob gegen dieses Vorgehen/Prinzip verstoßen. „Das geht so nicht“, kritisierte Richter Dreyer.

Auch die Staatsanwaltschaft im neuen Verfahren hatte einen Freispruch gefordert. Wenn man alle Mosaikstücke zusammen sieht, ist die Täterschaft als unwahrscheinlich anzusehen“, sagte Staatsanwalt Andreas Thöne. Nach dem Urteil sagte er: „Es gab keine Alternative.“

Sein Verteidiger Hartmut betonte:

„Eine größere Ohrfeige als diese für die Kammer des Landgerichts Darmstadt hat es in Deutschland noch nicht gegeben.“

Horst A. zeigte sich nach der Urteilsverkündung zufrieden. Er hatte nach Haftende allerdings keine neue Anstellung als Lehrer mehr bekommen und lebt nun von Hartz IV. „Ich hoffe, dass Normalität eintritt“, so der 52-jährige. Außerdem kündigte er an, „Fragen an das Land Hessen“ zu stellen. Dabei wird es sicher nur um eine Entschädigung gehen. Bei einem Entschädigungssatz von 25€ pro erlittenen Hafttag, stellt sich die Frage, ob man bei diesem Betrag von ernstgemeinter Entschädigung sprechen kann, oder eher von eine grenzenlosen Unverschämtheit.

„Justiz hat mit Gerechtigkeit so viel zu tun wie die Landeskirchenverwaltung mit dem lieben Gott.“
Herbert Rosendorfer zitiert in: Sonntagsblatt, Evangelische
Wichenzeitung für Bayern, Ausgabe 24, 12. Juni 2005

Wie kann ein Justizopfer überhaupt entschädigt werden, der nicht nur fünf Jahre seines Lebens unschuldig gesessen hat, sondern ausgerechnet auch als Vergewaltiger in einer JVA?

Welchen Spießrutenlauf er ausgesetzt war, brauchen wir nicht weiter auszuführen. Die anschließenden Jahre in Freiheit waren sicher auch nicht viel besser - verständlicherweise keine Freunde mehr, keine Arbeitsstelle, keine Chancen auf einen Neuanfang. Die gesellschaftliche Ächtung insbesondere bzgl. solcher Straftaten, die Horst A. erfahren musste, muss für ihn als Unschuldigen die Hölle auf Erden gewesen sein.

Finanziell sieht die Entschädigung eher mager aus, denn mehr als 25€ pro Hafttag gibt es nicht. Wie man bei der Berechnung der Entschädigung auf 25€ Tagessatz kommt, geht sicher in die 50-er Jahre zurück, wo der Durchschnitts- lohn in Deutschland bei 50 DM Tagessatz war. Hier ist es endlich an der Zeit, den lächerlichen Betrag dem heutigen Stand anzugleichen.
Auch die Möglichkeit für einen Neuanfang ist faktisch nicht gegeben. Jeder Informant, der sich im Genuss des Zeugenschutzprogrammes befindet, bekommt eine neue Identität, Arbeit und Wohnung. Hierfür sind Geldmittel vorhanden bzw. werden lockergemacht. Für mittlerweile unnötige Entschädigungszahlungen ins Ausland ist auch immer sofort reichlich Geld vorhanden. Wo kein Wille, da kein Weg!!

Hat der Fehlverurteilte nicht die gleichen Möglichkeiten adäquater Entschädigung verdient? Wir wissen alle, dass ein gewisser Restverdacht immer bleiben wird, gerade dann, wenn es bei der betroffenen Person um Vergewaltigung oder Kindesmissbrauch geht. Sein Leben ist im Wohn- und Arbeitsumfeld für immer zerstört.

Eine Ausnahme, ein Einzelfall? Bei Weitem nicht. Im März 2009 wurde an der Staustufe Bergheim der bayerischen Donau ein Autowrack geborgen. Die Polizei zig den Mercedes mit einem Kran aus dem Wasser. Dabei platzte die Windschutzscheibe, aus dem Fahrzeuginneren schossen Wasser, Schlamm und ein Toter. Mittels einer DNA - Analyse war die Identität des Toten schnell geklärt: Es war die Leiche des sieben Jahre zuvor verschwundenen, für ermordet und an Hunde sowie Schweine verfüttert gehaltenen Bauern Rudolf Rupp aus einem Dorf bei Neuburg an der Donau.

Die Entdeckung des Wracks versetzte dem Vertrauen in die Gerechtigkeit der Justiz einen schweren Schlag. Über den Tod des Mannes, der aus der Donau geborgen wurde, hatte vier Jahre zuvor das Landgericht Ingolstadt geurteilt.

Die Richter waren überzeugt, dass ihn seine Ehefrau, seine beiden Töchter und der Freund der älteren Tochter im Oktober 2001 auf dem Hof mit einem Hammer erschlagen, anschließend zerstückelt und die Leichenteile an die Hunde verfüttert hätten. Den Rest hätten die Schweine bekommen. Nicht gruselig genug? Die Richter hatten voll wohligen Schauderns noch eins daraufgesetzt: „Hierbei besteht die Möglichkeit“, heißt es im Urteil von 2005, „dass die Schweine sogar von der Familie selbst gegessen worden sind.“

1882 Tage saßen die Hauptangeklagten bis zum Fund des Autos unschuldig hinter Gittern. Ein Super-GAU!

Die Geschichte aus der Provinz, die erst vor weinigen Monaten mit einem Freispruch endete, ist bereits jetzt schon Lehrstoff an Universitäten, Thema von Juristen und Justizpolitikern: Wie kann es passieren, dass ein ganzer Apparat versagt? Dass die Staatsanwaltschaft, zwei Landgerichtskammern und die Revisionsinstanz Totschlagsurteile auf einer frei erfundenen Gruselstory gründen?

Wer schützt, so absurd das auch klingen mag, die Bürger vor Richtern, denen die Fantasie durchgeht, die in ihrer Allmacht Menschen ruinieren und jahrelang ihrer Freiheit ent- ziehen, mit Verdächtigungen und vermeintlichen Wahrheiten behängen können?

Dass die Wahrheit so plötzlich über die Justiz hereinbricht wie an der bayerischen Donau, ist kein Einzelfall. Zufallsfunde, wissenschaftliche Fortschritte in der Kriminalistik, nachträglich aufgedeckte schwere Ermittlungsfehler machen immer wieder deutlich, wie zerbrechlich die „Wahrheit“ ist, die täglich in deutschen Gerichtssälen gefunden wird - und wie gefährlich sie sein kann für die Betroffenen.

Meistens sind es quälend lange Prozesse, an deren Ende es Strafverteidigern gelingt, Fehlurteile aufzudecken, längst weggesperrte Menschen aus dem Gefängnis zu holen.

In rund 2.000 Fällen pro Jahr sieht sich die Justiz in Deutschland genötigt, Wiederaufnahmeverfahren einzuleiten - weil das, was rechtskräftig als abschließende Wahrheit oft von mehreren Gerichtsinstanzen festgestellt wurde, als nicht mehr haltbar erscheint. Niemand kann auch nur schätzungsweise sagen, wie viele Menschen in Deutschland unschuldig hinter Gittern sitzen. „Eine stattliche Zahl“ an Opfern der Wahrheitsfindung vermutet der Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate, der schon für etliche Mandanten Wiederaufnahmeverfahren erreicht hat.

Doch genauso unüberschaubar ist die Zahl derer, die bei der Suche nach der Wahrheit im Gerichtssaal zu hilflosen Opfern wurden - noch bevor es zu einem Urteil kommen konnte: unschuldige Verdächtige, verstörte Zeugen, enttäuschte ge- schädigte. Im Ringen um die Wahrheit gibt es viele Verlierer vor Gericht.
Doch das „Großunternehmen Justiz“ ist nicht nur durch die Kompetenzverteilung auf 16 Bundesländer in seiner Fähigkeit zur Selbstkontrolle beschränkt. Die Justiz, sagt der Münchener Strafverteidiger Werner Leitner, lege unterschiedliche Maßstäbe an:

„Wenn über Privatunternehmen geurteilt wird, betrachten die Gerichte jeden Mangel an betriebsinterner Überwachung als schuldhaftes Versagen. Aber wer passt in der Justiz auf?“

Selbst wenn sie es wollen - die Möglichkeiten der Richter zur Korrektur ihrer Fehler sind begrenzt. Ein Strafprozess kann zwar in der Berufung prinzipiell nochmals komplett neu aufgerollt werden; aber das gilt nur für Verfahren, bei den das Amtsgericht in erster Instanz sachlich zuständig war. Ausgerechnet in den kapitalen Fällen, die im ersten Rechtszug vor den Landgerichten oder gar den Oberlandesgerichten verhandelt werden, gibt es keine Berufung, sondern die Revision - und die sieht lediglich die Prüfung von Rechts- und Verfahrensfehlern vor, in engen Grenzen auf Fehler bei der Beweiswürdigung. Maßgeblich ist dabei das, was das Gericht zum Sachverhalt festgestellt hat. „Das Revisionsgericht hat eine eingeschränkte Prüfungsperspektive“, sagt der BGH-Richter Thomas Fischer. Neue Beweismittel können in der Revision nicht mehr vorgebracht werden.
So kann man letztlich noch glücklich sein, dass die Todesstrafe in Deutschland abgeschafft wurde, wie Ex-Richter Gehrke ebenfalls meint:

„Ich war immer froh, dass wir in Deutschland nicht die Todesstrafe haben“, sagt EX-Richter Gehrke. „Es ist beruhigend, dass im schlimmsten Fall ein Fehler korrigierbar ist.“
Letzte Änderung: 12 Jahre 1 Monat her von Bernd Offizier.

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